15.02.2012: Berichterstattung Gauck-Vortrag
Joachim Gauck während seines Vortrags - Foto: Ralph Hennings
Kämpfer, Künstler, Spötter und Erlöser
Joachim Gauck spielt bei seiner Rede in Oldenburg viele Rollen und zeigt,dass er der ideale Bundespräsident wäre
Die Menschen in der Lambertikirche bestaunen ihn. Er erklärt ihnen, warum unsere Demokratie so wichtig ist und was der Osten trainieren muss.
Von Andreas Lesch
Als der Abend fast zu Ende ist, bekommt Joachim Gauck noch ein Lamm in die Hand gedrückt. Eines aus Stoff. Gauck fragt: Na, mein Kleiner, wie heißt denn du? Das Lamm heißt Lamm Berti; Gauck hat schließlich gerade in der St.Lamberti-Kirche gesprochen. Och, super, sagt er, da kann mein Enkel mit spielen. Gauck hat an diesem Donnerstag in Oldenburg für jeden das passende Wort. Sogar für ein Kuscheltier. Vor anderthalb Jahren ist Gauck für die Wahl zum Bundespräsidenten nominiert gewesen. Er ist im dritten Wahlgang dem Gegenkandidaten Christian Wulff unterlegen. Jetzt, da Wulff sich und das Land mit seiner ewigen Affäre quält, beweist Gauck bei seinem Auftritt in Oldenburg, dass er der bessere, der ideale Bundespräsident wäre. Er erwähnt Wulff mit keinem Wort. Das muss er auch nicht. Er weiß, wie er auf seine Zuhörer wirkt. Er weiß, dass sie sehen, hören, fühlen, wie überlegen er dem Staatsoberhaupt ist. Das Thema seines Vortrags lautet: 20 Jahre Wiedervereinigung ist zusammengewachsen, was zusammengehört? Aber Gauck hält keine Geschichtsstunde. Er erzählt Geschichten. Er erklärt, warum unsere Demokratie so wichtig ist und warum wir für sie kämpfen müssen: Keiner meiner männlichen Vorfahren hat das erlebt, was ich erlebe: nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Gauck hat etwas zu sagen. Er rüttelt auf. Er macht Mut.Er bringt die Leute zum Lachen. Sie lachen mit ihm und nicht über ihn, wie bei Wulff. Anders als der Bundespräsident verteidigt Gauck sich nicht, er greift an. Er fragt sein Publikum, warum wir als Konsumenten ständig wählen und Entscheidungen treffen, für Schuhe, Autos, Urlaubsziele und bei der Wahl eines Bürgermeisters behaupten, wir seien überfordert. Total blöd, so was, schimpft Gauck.Er warnt: Alle Menschen sind diktaturfähig. Als das Publikum raunt, fügt er an: Glauben Sie nicht? Hier war auch mal Diktatur. Selbst der edle Menschenschlag, der hier lebt, kann Diktatur. Da schweigen alle. Einmal erzählt Gauck von einem Jungen und einem Mädchen aus der DDR, und nebenbei spöttelt er: So, meine Damen und Herren, wir versetzen uns jetzt mal in dieses jugendliche Alter. Für einige hier ist das schwierig. Die meisten Zuhörer sind über 50. Sie lachen. Er hat das geahnt. Er hat ein Gespür für die Menschen. Er weiß, wie er sie packen kann. Zu Beginn seiner Rede ruft jemand, er verstehe Gauck schlecht. Das freut den Redner, er sagt: Wenn was nicht stimmt, mucken Sie gleich auf! Die Lambertikirche ist voll bis auf den letzten Platz. Pfarrer Reinhard Rittner, der Vorsitzende des Oldenburger Landesvereins und Organisator des Abends, scherzt: Wenn ich mich umschaue, könnte man denken, es wäre Heiligabend. Wer sieht, wie die Menschen Gauck zuhören, wie sie ihn bestaunen, wie sie ihm nach seiner Rede mit glänzenden Augen danken, der kann den Eindruck gewinnen, er sei tatsächlich eine Art Erlöser. Gauck beherrscht eine Kunst, die wenige Politiker beherrschen: Er sagt Sätze, die hängen bleiben. Zum Beispiel: Ich war in der DDR kein Staatsbürger, sondern ein Staatsinsasse. Oder: Es gibt einen ganz natürlichen Trainingsrückstand der Ostdeutschen in Sachen Demokratie. Sie wählen Parteien, die wir nicht brauchen. Wir brauchen nicht die Linkspartei und schon gar nicht diese rechten Halunken. Gauck bringt in seiner Rede das Mittelalter und die Fürsten unter, Kaiser Wilhelm und Willy Brandt, Adolf Hitler und Josef Stalin, Honecker-Witze und Buschzulagen und trotzdem hat alles seine Ordnung und seinen Sinn. Natürlich spricht Gauck frei. Er trägt Dialoge mit verschiedenen Stimmen vor, wie ein Ein- Mann-Hörspiel. Er macht Pausen an den richtigen Stellen, er spricht laut und leise. Alles sitzt, er steht. Er ruht in sich. Er traut sich was, er tippt sich auch mal an die Stirn. Würde Wulff es je wagen, seinem Publikum einen Vogel zu zeigen? Irgendwann sagt Gauck: Ich brauche Bürger, die bereit sind, ihre Rolle als Entscheider anzunehmen und die nicht so tun, als sei alles selbstverständlich. Das klingt wie ein echter Bundespräsidenten-Satz. Vermutlich soll es auch so klingen
Oldenburgische Volkszeitung - http://www.ov-online.de
Die voll besetzte Lamberti-Kirche - Foto: Ralph Hennings
Vom Wert einer freiheitlichen Gesellschaft
Joachim Gauck spricht in Oldenburg über Wendejahre und ostdeutsche Befindlichkeiten
Der Pfarrer skizziert sozialistische Lebenswege und spricht vom Zusammenwachsen von Ost und West. Er appelliert an die Gäste, Verantwortung zu übernehmen.
Von Norbert Wahn
700 begeisterte Zuhörer fand am Donnerstagabend der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Präsidentschaftskandidat Dr. Joachim Gauck in der Oldenburger Lambertikirche. Auf Einladung des Oldenburger Landesvereins sprach der 72-Jährige, der zehn Jahre lang die Stasi-Unterlagen-Behörde leitete und aktuell Vorsitzender der Vereinigung Gegen das
Vergessen Für Demokratie ist, über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung Ist zusammengewachsen, was zusammengehört?. Er ist in seinem Element. Kein Manuskript, kein Stichwortzettel, eine Stunde spricht er frei, immer wieder humorig. Etwa, als zu Beginn seiner Rede das Mikrofon zu leise ist und sich jemand darüber beklagt, antwortet er: Wenn etwas nicht stimmt, immer aufmucken: Sie sind das Volk. Gauck erzählt anfangs von den Wendejahren, wo im Osten die Euphorie um Wiedervereinigung und DMark bei vielen dem Missmut wich wegen geschlossener Arbeitsstätten und Arbeitslosigkeit. Wir mussten Demokratie erst lernen nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft und 44 Jahren im Sozialismus. Der Pfarrer skizziert sozialistische Lebenswege, erwähnt die Prägung der Vorwende- Ostdeutschen zur Gefolgschaft, spricht von Karrieremustern in Ossiland, von Menschen, die von Kindesbeinen gelernt haben, sich anzupassen. Gauck will damit nicht für Verständnis werben, sondern deutlich machen, dass die Ostdeutschen es nicht einfach hatten: Nach der Wende waren wir plötzlich nicht mehr die Sieger, sondern die Lehrlinge. Sein eigentlicher Appell an die Zuhörer lautet, das große Angebot der freiheitlichen Gesellschaft zu nutzen und ihren Wert zu schätzen. Dabei ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen: privat, beruflich und gesellschaftlich, betont der 72-Jährige. Immer wieder braust bei einigen seiner Aussagen Applaus auf, etwa wenn er sagt: Menschen sind begabt füreinander. Und dann wirbt er doch noch für ein wenig Verständnis: Wir müssen uns vor Augen führen, dass die Ossis immer noch ein bisschen anders sind. Als Joachim Gauck seinen Vortrag beendet, erheben sich alle Gäste von ihren Plätzen und spenden minutenlang Applaus. Der Mann aus dem Osten hatte im Nordwesten ein Heimspiel.
Nordwest-Zeitung - http://www.nzw-online.de
NWZTV zeigt einen Beitrag unter www.NWZonline.de/nwztv
v.l.n.r.: Vorsitzender des Oldenburger Landesvereins Pfarrer Reinhard Rittner, Joachim Gauck, Schriftführer des Oldenburger Landesvereins Torben Koopmann - Foto: Ralph Hennings
Werben für östliche Befindlichkeiten
Joachim Gauck erklärt den Trainingsrückstand in Sachen Demokratie
Von Frank Hethey
Ein leidenschaftliches Plädoyer für den mündigen Bürger hat der frühere DDR-Bürgerrechtler Dr. Joachim Gauck am Donnerstagabend vor 700 Zuhörern in der ausverkauften Oldenburger Lambertikirche gehalten. Wir brauchen Bürger, die bereit sind, ihre Rolle als verantwortungsvolle Menschen, als Entscheider anzunehmen, sagte der 72-jährige Theologe in seiner gut eineinhalbstündigen Rede zum Thema 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist zusammengewachsen, was zusammengehört?. Seine Würdigung freiheitlicher Gemeinwesen verband Gauck mit dem Appell, sich im gesellschaftlichen Leben mehr zu engagieren. Wir sind eine entscheidungsfähige Nation aber oft genug nur im Konsum. Der langjährige Leiter der Stasi-Unterlagen- Behörde und unterlegene Gegenkandidat des amtierenden Bundespräsidenten Christian Wulff war auf Einladung des Oldenburger Landesvereins an die Hunte gekommen. In seinem Vortrag verglich Gauck die Mentalität seiner Landsleute in den neuen Bundesländern mit dem deutschen Untertanengeist im 19. Jahrhundert. Das Leben in der DDR sei eine ständige Einladung zu Gehorsam und Unterwerfung gewesen: Die Leute haben von Kindesbeinen an gelernt, dass es rational ist, sich anzupassen. Anders im Westen, wo nach 1945 eine funktionierende Zivilgesellschaft entstanden sei. Das ist ein gewachsener Rückstand, ein Trainingsrückstand, der erst einmal aufgeholt werden muss. Für die Befindlichkeiten im Ostteil der Republik warb Gauck mit plastischen Beispielen aus dem Alltagsleben um Verständnis. Sie sollen nicht nur verstehen, sondern auch fühlen, wie es ist, in einem gesellschaftlichen Umfeld zu leben, in dem es überhaupt nichts bringt, mutig und tapfer zu sein. Eine erfolgreiche Berufskarriere sei in der DDR nur möglich gewesen, wenn man das System nicht infrage gestellt habe. Da war man kein Staatsbürger, sondern ein Staatsinsasse. Diese Mentalität mache sich bis heute im Wahlverhalten bemerkbar: Die im Osten wählen anders. Die wählen Parteien, die wir nicht brauchen. Eindringlich warnte Gauck davor, die Errungenschaften der westlichen Welt und insbesondere in Nordeuropa kleinzureden. Bei uns gibt es ein soziales Netzwerk, nach dem sich acht Neuntel der Weltbevölkerung sehnen würden. Die Fortschritte im Laufe der deutschen Geschichte illustrierte Gauck auch mit Beispielen aus der eigenen Familienhistorie. Er selbst habe keinerlei Gewalterfahrungen als Soldat machen müssen im Gegensatz zu seinen männlichen Vorfahren. Über die Affäre um seinen einstigen Konkurrenten Wulff verlor Gauck kein Wort. Gleichwohl ließen sich einige Anmerkungen sehr wohl auf den taumelnden Bundespräsidenten beziehen. So etwa, als Gauck in geradezu existenzialistischer Manier die Entscheidungsfreiheit des Individuums betonte: Es ist wichtig zu glauben, dass wir allezeit eine Wahl haben.
Delmenhorster Kreisblatt - www.dk-online.de