Christen Pastoren Bischöfe in der evangelischen Kirche Oldenburgs im 20. Jahrhundert
312 Seiten, 111 sw-Abbildungen, brosch., 2013, 19,80
ISBN 978-3-89995-998-7
Wer sich über leitende Theologen und Juristen in Oldenburgs evangelischer Kirche kundig machen will, etwa über Heinrich Tilemann und Wilhelm Flor vor dem Zweiten Weltkrieg oder über Wilhelm Stählin und Hermann Ehlers in der Nachkriegszeit, findet hier dank neu erschlossener Quellen Analysen zu Personen und Konzepten und was daraus geworden ist.
Auch für einzelne Kirchengemeinden und Pastorenschicksale werden neue Belege vorgelegt und ausgewertet. Paul Schipper in Delmenhorst und Hermann Buck in Oldenburg und Wangerooge trotzten der Herrschaft der Deutschen
Christen und damit des Nationalsozialismus, während Reichsbischof Ludwig Müller die Unabhängigkeit des Christentums gegenüber Politik und Gesellschaft verspielte. Karl Jaspers und Rudolf Bultmann, die bedeutendsten Gelehrten aus der Region, nahmen aufmerksam teil an der kirchlichen Entwicklung im Oldenburger Land.
In zwölf biografischen Studien wird so die Zeitgeschichte lebendig, um bei der Suche nach der Zukunft die Orientierung zu behalten.
Rezension von Dr. Tim Unger, Pfarrer in Wiefelstede:
In der historischen Forschung der letzten Jahrzehnte lässt sich eine Hinwendung zu strukturellen Fragen und wiederum eine leise Gegenbewegung zu personengeschichtlichen Darstellungen feststellen. Das ist auch in der Kirchengeschichte nicht unberücksichtigt geblieben. Der Öffnung gegenüber sozial und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen, die weiter ihre Evidenz behalten, folgten gerade in letzter Zeit die Renaissance z.B. großer Luther-Biographien und ein verstärktes Interesse an der Biographie bedeutender Theologen des 20. Jahrhunderts (z.B. Paul Althaus und Rudolf Bultmann).
Für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung des Oldenburger Landes hat Reinhard Rittner im Laufe von über 20 Jahren bedeutende Beiträge in Fachzeitschriften, Sammelbänden und Festschriften geliefert, die sich vor allem der Personengeschichte widmen, diese jedoch stets in die gesellschafts- und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen der Zeit stellen. So gelingt es Rittner beispielsweise in seiner Darstellung kirchlicher Äußerungen über den Selbstmord zwischen 1860 und 1932, die Initiativen einzelner Institutionen wie der Kreissynode Varel und des Oldenburger Kriegerbundes oder von Pfarrern wie Hans Rühe darzustellen, die zu einer differenzierten Betrachtung des Suizids weg von einer ethischen zu einer seelsorgerlichen Beurteilung führten. Auf der anderen Seite öffnet der Autor aber auch den Blick für die heutige seelsorgerliche Situation (S. 92): Sollte daher der diakonisch-seelsorgerliche Dienst der Kirche an den Angefochtenen nicht der angemessene Ausdruck des befreienden Evangeliums sein?
Ein Schwerpunkt der kirchengeschichtlichen Arbeit Rittners ist und bleibt der Kirchenkampf, auch mit seiner Vor- und Nachgeschichte. Religion, Kirche und Gesellschaft in der Stadt Oldenburg um1930 ist ein Aufsatz überschrieben, in dem er die Gemeindearbeit in der schon damals mit 30.000 Gemeindegliedern größten Kirchengemeinde des Oldenburger Landes darstellt. Bereits die Wahlen zum Kirchenrat 1930 sind stark politisiert. 1932 zeigt die Agitation der nationalsozialistischen Landesregierung gegen einen Vortrag des Togoer Pastors Robert Stephen Kwami in der Lambertikirche, dass die völkische Rassenlehre einem Christentum gegenüberstand, das nationale Grenzen überschreitet. Für den Kirchenkampf bietet der vorliegende Band lokale Fallstudien an Hand der Stadt Delmenhorst und der Gemeinde Rastede. Dazu kommen biographische Studien zu Paul Schipper, einem Pastor der Bekennenden Kirche in Delmenhorst, der 1939 Berufsverbot erhielt und in die Wehrmacht einberufen wurde, aus deren Kriegseinsatz er nicht mehr zurückkehren sollte, oder zu Hermann Buck, der aus Oldenburg nach Wangerooge versetzt wurde und dort sein Purgatorium (Fegefeuer) erlebte: Der Großteil der Kirchengemeinde stand gegen den Pastor, der sich von Einschüchterungsversuchen der NSDAP-Gauleitung nicht beirren ließ, aber in den 1930er Jahren den Kirchenaustritt eines Viertels seiner Gemeindeglieder erleben musste. Auch andere oldenburgische Pastoren ließen sich von der nationalsozialistischen Ideologie und der völkischen Theologie der Deutschen Christen nicht beeindrucken. Einer der wenigen Theologen, die der Durchsetzung des Arierparagraphen in der Kirche widersprachen, war der in Wiefelstede geborene Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann. Rittner, der die Aufstellung der Bultmann-Büste in den Oldenburger Wallanlagen maßgeblich mit initiiert hat, schildert die Beziehungen Bultmanns in seine Heimat, das Oldenburger Land: Der Ahlhorner Pastor Hans Roth stand in regem Austausch mit Bultmann und regte dessen wichtigen, jedem evangelischen Theologen bekannten Vortrag und Aufsatz Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? an. Auch Wilhelm Flor, zeitweise nebenamtliches juristisches Mitglied des Oberkirchenrates und seit 1933 Reichsgerichtsrat in Leipzig, wird in seiner Bedeutung für die Bekennende Kirche dargestellt. Für Flor, der nicht im kirchlichen Dienst stand, war die Mitarbeit in der Bekennenden Kirche ein großes berufliches Risiko. Hier benennt Rittner ein Desiderat der Erforschung des Kirchenkampfes: Der entscheidende Vertreter im Rechtskampf der Bekennenden Kirche in der NS-Herrschaft hätte eine eingehendere Darstellung verdient.
In die Zeit nach dem Kirchenkampf weist der Vortrag und Aufsatz über Personen, Mentalitäten und Konzepte im kirchlichen Nachkriegsoldenburg. Rittner beleuchtet den Neuanfang in der Kirche nach dem staatlichen Zusammenbruch, die Vorbereitungen zu einer neuen Gemeindewahlordnung und die Bischofskrise 1952, als die Rechtmäßigkeit der Wahl Prof. Dr. Wilhelm Hahns zum oldenburgischen Bischof angezweifelt wurde, was zum Verzicht des späteren baden-württembergischen Kultusministers führte.
Mit dem Band werden nicht nur wichtige Aufsätze zur regionalen Kirchengeschichtsforschung noch einmal zugänglich gemacht. Die Beiträge bilden auch Ergänzungen zum entsprechenden Kapitel, das der Autor in der Oldenburgischen Kirchengeschichte bearbeitet hat. Rittner reflektiert selbst die Bedeutung seiner vor allem biographischen Beiträge (S. 234): Das evangelische Christentum weiß um die Erfahrung der Unverfügbarkeit und ihre Spuren in den Lebensgeschichten. Manche Biographien haben Leitbildcharakter. Obwohl Aufsatzband, handelt es sich bei den Beiträgen nicht einfach um zufällige Ausschnitte. Dem Leser bietet sich ein weites Feld an Einblicken und kritischer Würdigung der jüngeren kirchlichen Geschichte. Gleichzeitig können Lesefrüchte geerntet werden, die bis in die heutige kirchliche und gesellschaftspolitische Debatte weisen. Der Oldenburger Seminardirektor Karl Willich formulierte 1852 einen Satz, der Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum von 1967 vorwegnimmt (S. 163): Der Staat muß bei seinen Bürgern auf Kräfte und Antriebe rechnen können, die er seiner Natur nach nicht selbst erzeugen kann.
Quelle: Oldenburger Jahrbuch 114, 2014, S. 206 f.
Rezension von Prof. Dr. Konrad Hammann, Kirchenhistoriker in Münster
Der Autor dieses Buches, Reinhard Rittner, war viele Jahre als Pfarrer für theologische Arbeit im Evangelisch-lutherischen Oberkirchenrat Oldenburgs tätig. Mit der vorliegenden Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen ergänzt und vertieft R. den Beitrag über die evangelische Kirche im 20. Jh., den er zu der von Rolf Schäfer herausgegebenen, 2005 in zweiter Auflage erschienenen "Oldenburgischen Kirchengeschichte" beigesteuert hat. Die in gut zwei Jahrzehnten entstandenen Einzelstudien sind in dem anzuzeigenden Sammelband in der chronologischen Reihenfolge ihres ersten Erscheinens angeordnet.
Der Titel des Buches könnte den Eindruck erwecken, als ginge es in ihm vornehmlich um personenbezogene Zugänge zur oldenburgischen Kirchengeschichte im 20. Jh. Dies ist durchaus auch der Fall. Jedoch ist R., wie schon seine einleitenden Bemerkungen zu den Gegenständen des Bandes zeigen (13-18), mit den methodischen Standards der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung bestens vertraut, so dass er mit dem personenorientierten Ansatz - je nach Thema - auch institutionen-, mentalitäts- oder sozialgeschichtliche Perspektiven zu verbinden versteht.
Die Wahrnehmung der Phänomene unter unterschiedlichen Gesichtspunkten bewährt sich exemplarisch an der instruktiven Aufarbeitung des Umgangs mit dem Suizid in der oldenburgischen Kirche zwischen 1860 und 1932. Deutlich wird neben einem problematischen Dogmatismus in dieser Frage doch durchaus das Bemühen vieler, dem kirchlichen Verkündigungsauftrag und zugleich auch humanen, sozialen und seelsorgerlichen Belangen gerecht zu werden (69-95). Auf die große Theologiegeschichte hin öffnet R. die territoriale Kirchengeschichte sodann mit zwei Beiträgen zu Rudolf Bultmann. Erinnert wird einmal das Verhältnis des großen Marburger Theologen zu seinem Schüler Hans Roth, das gewissermaßen den äußeren Entstehungskontext von Bultmanns bedeutendem Vortrag bzw. Aufsatz "Welchen Sinn hat es, von Gott zureden?" bildete (97-119). Vergegenwärtigt werden zum anderen Bultmanns lebenslange Beziehungen zu seiner oldenburgischen Heimat anhand seiner Freundschaft mit dem jüdischen Schulkameraden Leonhard Frank aus Westerstede, wieder des Austausches mit Hans Roth, des Entmythologisierungsprogramms, des Streites um die konfessionelle Ausrichtung des Religionsunterrichts nach 1945 sowie der 2002 in Oldenburg aufgestellten Bultmann-Büste von Michael Mohns (279-300).
Zwei Beiträge weisen über sich hinaus auf die Zeit des Dritten Reiches. R. zeigt in einer Studie zur Tätigkeit des späteren Reichsbischofs Ludwig Müller als Marinepfarrer und -oberpfarrer in Wilhelmshaven 1914-1926 detailliert auf, wie dessen nationalreligiöses Denken maßgeblich durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs geprägt war (215-234). Eine kirchenkundliche Miniatur von "Religion, Kirche und Gesellschaft in der Stadt Oldenburg um 1930" bietet einen instruktiven Einblick in die erkennbar divergierenden Positionen, die man in der Kirchengemeinde Oldenburg bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Zeit sowie der Krise der Weimarer Parteiendemokratie bezog (145-166).
Ein Schwerpunkt des ganzen Bandes liegt auf dem "Kirchenkampf" in Oldenburg. Den in der Kirchlichen Zeitgeschichte wiederholt problematisierten Begriff des Kirchenkampfes verwendet R., wohl wissend um die mit ihm verbundenen Schwierigkeiten, aus pragmatischen Gründen und unter Verweis auf die lokalen Gegebenheiten weiterhin (15 f.235 f.). Exemplarisch nimmt er zunächst die Auseinandersetzungen in Delmenhorst in den Blick, deren Opfer der Pastor Paul Schipper wurde - der deutschchristlich dominierte Oberkirchenrat versetzte ihn 1939 in den einstweiligen Ruhestand (19-51). In Rastede spiegelte sich der die oldenburgische Landeskirche auch sonst beherrschende Gegensatz zwischen den Deutschen Christen und der Bekenntnisgemeinde paradigmatisch wider. Freilich verliefen die Fronten hier wie anderenorts längst nicht so eindeutig, wie spätere Kirchenkampflegenden es glauben machen wollten (235-254). Dies wird in spezifischer Weise auch an dem Juristen Wilhelm Flor deutlich, der nebenamtlich Mitglied des Oldenburger Oberkirchenrats war und später als Reichsgerichtsrat von Leipzig aus die Bekennende Kirche, nach deren Spaltung 1936 die gemäßigte lutherische Richtung, durch juristische Gutachten unterstützte. Dieses öffentliche kirchliche Engagement wurde Flor 1937 durch das Reichsjustizministerium untersagt (121-144). Ein weiteres Porträt zeichnet R. von dem Pfarrer und Kirchenrat Hermann Buck, der mit seinem kompromisslosen Einsatz für das lutherische Bekenntnis und die Unabhängigkeit der kirchlichen Arbeit in Oldenburg und auf Wangerooge unter den restriktiven Bedingungen der NS-Diktatur ein Beispiel der Zivilcourage gab (167-194).
Die innerkirchliche Aufarbeitung der Erfahrungen aus dem Dritten Reich, wie sie sich nach 1945 vollzog, weist manche Ambivalenzen auf, was R. anhand einiger Zwangsversetzungen von belasteten Pfarrern in der Oldenburger Kirche aufzeigt (53-67). Die Frage, welche Richtung die Oldenburgische Landeskirche in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einschlagen sollte, war im Übrigen lange offen. Personal- und Verfassungsfragen, theologische Orientierung und das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft wurden kontrovers diskutiert. Der Oldenburger "Bischofsstreit" 1952/53, zu dem R. hoffentlich noch in naher Zukunft eine geplante monographische Untersuchung vorlegen wird, machte dies sichtbar (195-214).
Der Aufsatzband ist reich bebildert. Abbildungen der behandelten Akteure und etlicher Kirchengebäude sowie die Wiedergabe von wichtigen Dokumenten illustrieren die vorgelegten Texte eindrucksvoll. Dies gilt zumal für die von Achim Knöfel mitverfasste Studie über das Wirken des Kirchenmalers Hermann Oetken, der in zahlreichen Oldenburger Kirchengemeinden seine künstlerischen Spuren hinterlassen hat (255-278). R. hat es verstanden, die lokale und territoriale Kirchengeschichte Oldenburgs im 20. Jh. im Lichte der allgemeinen historischen, kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen aufzuhellen. Wo er die rekonstruierten Befunde kommentiert und beurteilt, tut er dies mit Umsicht und dem durchgängigen Bemühen um historische Gerechtigkeit. Der von Rolf Schäfer mit einem Geleitwort versehene Band ist über dies sehr leserfreundlich eingerichtet. Ein Abkürzungsverzeichnis, Nachweise der Abbildungen und der Orte der Erstveröffentlichung der Aufsätze sowie Register der Namen, Orte und Sachen erschließen das Buch in vorbildlicher Weise.
Quelle: Theologische Literaturzeitung, Heft 6/2015
Rezension von Prof. Dr. Hans Otte, Leitender Archiv- und Bibliotheksdirektor i. R., Hannover
In der erstmals 1999 erschienenen und 2005 erneut veröffentlichten Oldenburgischen Kirchengeschichte hat Reinhard Rittner den Abschnitt über die Evangelische Kirche im 20. Jahrhundert geschrieben. Sie fasst seine Arbeiten zu diesem thematischen Umfeld zusammen und unterfüttert die naturgemäß knappere Darstellung in der Kirchengeschichte durch Beispiele; gleichzeitig ergänzt sie das Bild durch die Interpretation neu gefundener Quellen und präzisiert in kluger Weise das theologische Urteil. Der Außenumschlag, der Porträts der im Buch dargestellten Personen zeigt, macht deutlich, dass der Vf. ein Freund der Biographik ist. Beschrieben werden prägende Persönlichkeiten der oldenburgischen Kirchengeschichte aus der Zeit zwischen 1930 und 1950: Unter ihnen der Delmenhorster Pfarrer Paul Schipper (1904-1945) und der Oldenburger bzw. Wangerooger Pfarrer Hermann Buck (1872-1954) als Vertreter einer bekennenden Kirche, die sich dem Nationalsozialismus verweigerten und durch die deutsch-christliche Kirchenleitung schwere Sanktionen in Kauf nahmen; als Kirchenjurist im Nebenamt Wilhelm Flor (1882-1938), der von Leipzig aus als Reichsgerichtsrat den Oldenburger Kirchenkampf kritisch begleitete und den Anhängern der Bekennenden Kirche immer wieder juristisch klug unterfütterte Ratschläge zur Klärung ihres Widerstands gab. Skizziert wird auch die Persönlichkeit des Reichsbischofs Ludwig Müller (1883-1945), der sich 1919/20 um ein Oldenburger Pfarramt bewarb, wenig später als Marinepfarrer nach Wilhelmshaven wechselte und dann über die Station Königsberg nach Berlin in das Amt des Reichsbischofs wechselte. Als Theologe gilt Müller gemeinhin als uninteressant, doch dem Vf. gelingt es, die theologische und politische Weltsicht Müllers deutlich zu machen: seine Orientierung an der Kriegsmarine als Wertegemeinschaft, die Benutzung religiöser und christlicher Motive, um politischer Ziele willen. Diese Form christlich verbrämter politischer Predigt vergleicht der Vf. mit einer Predigt von Heinrich Tilemann (1877-1956), dem Präsidenten des Oberkirchenrats von 1920 bis 1934, dem es in einer Predigt aus ähnlichem Anlass gelingt, den theologischen Eigensinn seines Predigttextes bewahren, so dass der Kern der christlichen Botschaft erkennbar bleibt. Dabei reflektiert der Vf. sorgsam den theologischen und historiographischen Zusammenhang, in dem seine Protagonisten wirkten. Er scheut auch nicht klare Urteile, sie sind in der Regel nüchtern, aber wohlbedacht. An mehreren Beispielen vornehmlich an Beispielen aus Delmenhorst und Rastede macht er deutlich, dass der Begriff Kirchenkampf, der in den letzten Jahren mit guten Argumenten als wichtigste Deutungskategorie für die Beschreibung des kirchlichen Auseinandersetzungen in der NS-Zeit und das Verhältnis zum NS-Staat abgelehnt wurde, auf der lokalen Ebene seine heuristische Kraft behalten kann. Leitet ihn hier die historiographische Frage nach der Begrifflichkeiten, so wird auch an vielen Stellen das ihn leitende theologisches Interesse deutlich. Die Theologie muss sich auf die jeweilige Zeit und ihren Geist einlassen, aber sie darf sich davon nicht überwältigen lassen. Das gilt für die Gemeindepfarrer, die Kirchenleitung, aber auch für die Kirchenvorstände (Kirchenräte). Dieses Problem diskutiert er auch anhand der Frage nach dem Verhältnis von Volkskirche und evangelischer Identität. Für eine lange Zeit galten beide Größen unbefragt als deckungsgleich; dies prägte das theologische Profil der oldenburgischen Kirche. Erst durch die theologische und kirchliche Krise in den Jahren der NS-Herrschaft wurde deutlich, dass beide Größen nur teilweise übereinstimmen können. Dies war ein schmerzhafter Lernprozess; bei der Suche nach einer Neubestimmung dieses Verhältnisses gab es Irrwege, nicht nur bei den Deutschen Christen Oldenburgs, sondern auch bei Anhängern der Bekennenden Kirche und eben auch bei den Anhängern der liturgischen Bewegung (Erich Hoyer [1880-1943], deren Interesse an der Wiedergewinnung einer bewussten Kirchlichkeit er würdigt, aber in ihrer begrenzten Reichweite doch als unzureichend beurteilt. Diesen Fragen werden nicht nur am Beispiel von Biographien, sondern auch anhand an Sachthemen untersucht: So schildert er, eingeleitet durch Überlegungen zum zeitgeschichtlichen, methodischen und dogmatischen Zusammenhang unter der Frage Neuanfang durch Zwangsversetzungen?sorgsam den Umgang der Oldenburger Kirchenleitung nach 1945 mit den Pfarrern, die als Nazis oder Deutsche Christen schwer belastet waren. Es wird deutlich, dass die meisten von ihnen zügig versetzt wurden, so dass ihnen und ihren bisherigen Kirchengemeinden ein Neuanfang ermöglicht wurde, dennoch muss offen bleiben, in welchem Maße der mögliche Neuanfang von den betroffenen Pfarrern auch theologisch verarbeitet wurde. Unter der Hand und das macht die Lektüre besonders reizvoll entwickelt der Vf. theologische Kriterien für den Umgang mit den vielfältigen, kulturellen und politischen Herausforderungen der Moderne. In gleicher Weise untersucht er die Oldenburger Diskussion über die kirchliche Mitwirkung bei der Beerdigung von Selbstmördern, die hier zwischen 1860 und 1932 geführt wurde. Der Vf. beschränkt sich nicht auf die Wiederholung der seinerzeit eingenommenen Positionen; anders als die Beteiligten damals differenziert er genauer, so dass deutlich wird, dass sich die Geistlichen bei der Beerdigung von Selbstmördern unterschiedliche Anforderungen gegenüber sahen: dem Interesse an Erhalt der Kirchenzucht und der Verhinderung weiterer Selbstmorde, dem seelsorgerlichen Dienst an den Angehörigen, die durch den Selbstmord schon belastet waren, aber auch dem Anspruch auf Wahrheit bei den Beerdigungsansprachen. Am Ende resümiert Rittner unter Aufnahme liberaler Traditionen: Da zum religiösen Ursprung des christlichen Glaubens die Erfahrung des gewährten Lebens gehört, ist der Blick auf das Lebensende keine Angelegenheit von Vorschriften, sondern von Vertrauen. Das muß in freier innerer Entscheidung angeeignet werden. (S. 92). Angesichts der hier zu erkennenden theologischen Position ist verständlich, dass am Schluss des Buchs ein Beitrag zu Rudolf Bultmanns Verbindungen zum Oldenburger Land steht. Ihn präsentiert der Vf. als selbstbewussten Oldenburger, der die liberalen Traditionen Oldenburgs aufnahm und kontinuierlich die Oldenburger Kontroversen begleitete und kommentierte. Dazu gehörte nicht nur die Ablehnung des Begriffs der Evangelischen Unterweisung, die im Oldenburger Oberkirchenrat Edo Osterloh einen energischen Verteidiger hatte, sondern auch die seelsorgerliche Begleitung Einzelner, so des Ahlhorner Pfarrers Hans Roth (1896-1958), dessen Korrespondenz mit seinem akademischen Lehrer Rudolf Bultmann in einem eigenen Aufsatz gewürdigt wird, und auch die Frage des christlichen Trostes angesichts der Entmythologisierung und der Trostbedürftigkeit des Menschen. Die Sammlung dieser Aufsätze wird nicht nur durch Indices der Personen und Orte, sondern auch der Sachen erschlossen; jeder, der einmal versucht hat, komplexe theologische Sachverhalte durch ein Register zu erschließen, wird die Mühe zu würdigen wissen, die der Vf. dafür verwendet hat, alle anderen werden das Werk dankbar benutzen, das auf diese Weise leicht handhabbar wurde.
Quelle: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 114 (2016), S. 290-292